An der Pekinger Tsinghua Universität ist vom viel propagierten Aussterben der Spezies „Fahrrad“ nichts zu spüren. Tagtäglich rollen hier geschätzte 60.000 Treträder über den Campus. Woher kommen die vielen Bikes?
Vom „Aussterben einer Spezies“ sprachen deutsche Medien Anfang der 2010er Jahre mit Blick auf das zunehmende Verschwinden von Fahrrädern aus dem Pekinger Stadtbild. Mit dem Aufkommen von elektrisch betriebenen Rollern, sogenannten E-Bikes, seien gewöhnliche Fahrräder immer mehr ins Hintertreffen geraten und würden – so der Tenor – irgendwann unweigerlich ihren Weg in die Bedeutungslosigkeit finden.
Charme des vormodernen Chinas
Man kann von dieser Theorie halten was man möchte – die Studenten an der Pekinger Tsinghua University scheint sie jedenfalls wenig zu interessieren. Tagtäglich rollen hier geschätzte 60.000 Treträder über den Campus. Gemächlich ziehen sie vorüber und lassen den alten Charme des vormodernen Chinas neu aufleben. Vom Recht des Stärkeren, das auf Pekings vielbefahrenen Straßen herrscht, ist hier wenig zu spüren. Die Tsinghua Universität gehört zu den wenigen Orten in Chinas Hauptstadt, an denen das klassische Fahrrad noch nicht von Pkw oder Elektrorollern verdrängt wurde. Zwar lassen sich auch hier längst E-Bikes ausmachen, allerdings sind diese bei Weitem in der Unterzahl.
Bis zu zwanzigminütige Fußmärsche über den Campus
Warum hier kaum ein Student auf sein Fahrrad verzichten kann, wird schnell deutlich, wenn man sich die Größe des Campus vergegenwärtigt: Mit ca. 4 km2 zählt er zu den größten in China. Ohne fahrbaren Untersatz müssten die Studenten bis zu zwanzig minütige Fußwege in Kauf nehmen, um von einem der sechs Haupttore zu ihrem Vorlesungsraum zu kommen. Um den Studenten solche mühsamen Wege zu ersparen, hat die Universität einen eigenen Fahrradverleih ins Leben gerufen. Für kleines Geld kann sich jede Studentin und jeder Student einen eigenen Drahtesel ausleihen und diesen in der Regel während ihrer gesamten Studienzeit behalten.

Zum Vermodern zurückgelassen
Woher die Universität die vielen Fahrräder bezieht, die notwendig sind, um den enormen Bedarf zu decken, hat die chinesische Studentin Wei Yuanmin 2014 in ihrem Artikel „Tsinghua Recycle“ beschrieben. Demnach ist es unter Absolventen der Universität eine weit verbreitete Praxis, sein altes Fahrrad, das einen treu durch das Studium begleitet hat, nach dem Abschluss auf dem Campus zurück zu lassen, wo es nicht selten viele Jahre unbeachtet vor sich hin modert. Für die Universität sind solche „Zombie Bikes“ eine wahre Goldgrube, da sie sich kostengünstig reparieren und an kommende Studentengenerationen neu verleihen lassen – das spart bares Geld. Die Neustudenten indes freuen sich über ihre günstig erworbene Mobilität und obendrein wird dank der Fahrräder auch noch die Umwelt entlastet.
Bike Sharing gegen Fahrraddiebe
Und einen weiteren Vorteil versprechen sich die Autoritäten vom Bike Sharing: Laut der Pekinger Polizei stellt ein zentrales Fahrradverleihsystem die effektivste Maßnahme dar, um Fahrraddiebstählen vorzubeugen. Denn gebe man Studenten die Möglichkeit, Fahrräder kostengünstig auszuleihen, seien sie nicht mehr gezwungen, sich ein billiges Bike auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Für Diebe und Hehler sinke folglich der Absatz und damit auch der Anreiz, Fahrräder zu stehlen. Ob diese Rechnung aufgeht, lässt sich nicht eindeutig klären, da sich die chinesische Regierung mit offiziellen Zahlen generell bedeckt hält. Allerdings werden in Peking nach wie vor jeden Monat 200 bis 300 Fahrraddiebe geschnappt – die Dunkelziffer dürfte vermutlich noch höher liegen.

Aus diesem Grund ist die Pekinger Stadtverwaltung im Januar 2016 noch einen Schritt weiter gegangen und hat ein zentrales System zur Registrierung von Fahrrädern eingeführt. Unter Angabe seines Namens sowie der Anschrift kann fortan jeder Pekinger Bürger sein Bike offiziell auf einer Liste erfassen lassen. Das Aufspüren und Zurückholen gestohlener Räder dürfte der Polizei so deutlich leichter fallen. Allerdings ist diese Maßnahme für Fahrradbesitzer freiwillig und wird bislang kaum genutzt.