Auf Chinas Straßen tobt ein unsichtbarer Krieg: Rivalisierende Food-Lieferservice-Apps kämpfen mit harten Bandagen um die Vorherrschaft auf dem Sektor rund ums mobile Essen. Hinter den Kulissen ziehen jedoch andere die Fäden.
02. September 2016
Als im August dieses Jahres in China die beiden rivalisierenden Taxi-Apps Didi Chuxing und Uber nach einem langen und erbitterten Wettbewerb um die Führung auf dem Carsharing-Sektor aus heiterem Himmel beschlossen, die Waffen niederzulegen und fortan zusammenzuarbeiten, war in der chinesischen Internet-Startup-Szene niemand ernsthaft überrascht. Waren doch die Chinesen zuletzt gleich mehrfach Zeugen ähnlich unvorhergesehener Bündnisse verfeindeter Online-Unternehmen geworden: Da war zunächst der unerwartete Zusammenschluss der verfeindeten Taxi-Apps Didi Dache und Kuaidi Dache im Februar 2015 zu eben diesem Didi Chuxing, das nun den amerikanischen Konkurrenten Uber geschluckt hat. Nur zwei Monate später folgte die nicht weniger überraschende Übernahme des Online- Kleinanzeigenmarktes Ganji.com durch seinen ehemaligen Konkurrenten 58.com. Und im Oktober 2015 schließlich beschlossen auch die beiden Kontrahenten Xing Wang und Zhang Tao – Bosse der Gutscheinplattform Meituan und des Restaurant-Bewertungsportals Dianping -, das alte Kriegsbeil zu begraben und sich zusammenzutun.

Mit dem Einstieg in die O2O-Gastrobranche begannen die Probleme
Wie bei ihren Vorgängern beendete die Fusion eine lange und erbitterte Fehde zwischen den beiden Internet-Startups, die zum Teil mit fragwürdigen Methoden ausgetragen wurde. Dabei gab es anfangs gar keine Überschneidungen, denn das chinesische Groupon-Pendant Meituan konzentrierte sich ursprünglich auf Gutscheinaktionen und Rabattangebote, während das Yelp-ähnliche Dianping hauptsächlich auf Onlinebewertungen setzte. Und so lange man sich gegenseitig aus dem Weg ging, herrschte Frieden.
Doch mit dem Einstieg der beiden Firmen in die Online-zu-Offline-Gastronomiebranche, der Kombination aus digitalen Bestellverfahren und realem Kochservice, begannen die Probleme und die Kontrahenten kamen sich immer häufiger in die Quere. Es folgte ein langer und Ressourcen zehrender Wettbewerb, in dem die beiden Rivalen darauf drängten, ihre Essensbestell-Apps Meituan Takeout bzw. Dianping Takeout an die Spitze des chinesischen Food-Delivery-Marktes zu setzen. So lieferten sich die Kontrahenten erbitterte Preiskriege, gnadenlose Rabattschlachten und rangen mit Sonderaktionen tagtäglich darum, sich gegenseitig die Kunden abspenstig zu machen.

Rivalen, die sich gegenseitig dezimieren
Der strategische Anreiz, die alte Feindschaft am Ende aufzugeben, kam ebenfalls aus dem Lieferservice-Sektor und hieß Ele.me (deutsch: „Hungrig?“). Der Food-Lieferservice mit den blau uniformierten Kurierfahrern stieg 2015 überraschend zum Marktführer unter Chinas Gastro-Apps auf. Ein Erfolg, den das Unternehmen neben seiner aggressiven Politik vor allem der Tatsache zu verdanken hatte, dass sich seine Mitbewerber Meituan und Dianping mit ihrem aussichtslosen Krieg gegenseitig dezimierten.
Der Schulterschluss der beiden verfeindeten Gegenspieler schien folglich der verzweifelte Versuch zu sein, die gewaltige Marktmacht Ele.mes zu brechen und die eigene Position auf dem chinesischen Food-Sektor zu retten. Ein Unterfangen, das vorerst geglückt zu sein scheint, denn der aus der Fusion gestärkt hervorgegangene Bestelldienst Meituan rangiert derzeit mit einem Marktanteil von 33 % nur knapp hinter dem Spitzenreiter Baidu Takeout mit 34 %. Der einstige Marktführer Ele.me ist derweil auf den dritten Platz abgerutscht und hält nur noch 28 % Marktanteile.

Immer mehr Lieferdienste, immer mehr Konkurrenz
Lieferservice-Apps sind in China eine vergleichsweise neue Erscheinung, zählen jedoch schon heute zu den am härtesten umkämpften Märkten des Landes. Lange Zeit von der digitalen Revolution ignoriert, stoßen seit Kurzem immer mehr Startups in die junge Branche vor und machen sich gegenseitig Konkurrenz. Ein Blick in Chinas App-Stores offenbart eine schier endlose Auswahl an Speisenbringdiensten, wie z.B. Ele.me, Baidu Waimai oder eben die beiden ehemaligen Rivalen und heutigen Partner Meituan und Dianping. Die großen amerikanischen Fast Food-Ketten McDonald’s und Kentucky Fried Chicken sind sogar mit eigenen Kurierfahrern vertreten.

„Keine lästigen Anrufe, kein abgehetztes Personal“
„Lieferservice-Apps sind eine tolle Erfindung“, schwärmt der Immobilienmakler und Meituan-Stammkunde Jiang Wu. „Meine Firma verfügt über keine eigene Kantine. Früher musste ich deshalb in der Mittagspause immer das Büro verlassen und ewig nach einem freien Tisch in einem der meist überfüllten umliegenden Restaurants suchen. Dank der Apps sind diese Zeiten nun vorbei.“ Der 25-jährige Pekinger bestellt sein Essen täglich über die Liefer-App, manchmal sogar mehrmals am Tag. „Man kann zu jeder Zeit und an jedem Ort Essen bestellen, egal ob zu Hause oder auf der Arbeit, im Stadtzentrum oder weit draußen in den Vororten. Außerdem bleiben einem die lästigen Anrufe in den Restaurants erspart. Keine endlosen Warteschleifen, kein abgehetztes Personal am anderen Ende der Leitung. Und das beste ist: Man braucht noch nicht ein mal mehr Bargeld.“
Tatsächlich sind die Apps kinderleicht zu bedienen: Der Kunde ruft lediglich den Dienst seines Vertrauens auf seinem Smartphone auf, trägt die Lieferadresse ein und wählt anschließend das gewünschte Restaurant bzw. Menü aus. Ein Fahrer des jeweiligen Lieferdienstes holt die bestellte Mahlzeit beim Restaurant ab und bringt sie anschließend zum Kunden. Die Abrechnung erfolgt entweder in bar nach Erhalt der Lieferung oder bargeldlos über Online-Bezahldienste wie z.B. Alipay. „Einfacher geht es wirklich nicht“, so Wu.

Katastrophale Hygienebedingungen
Doch nicht jeder teilt die Begeisterung für die Gastro-Apps. „Wir vertrauen unsere Speisen keinem Lieferdienst an“, sagt Alice Liu vom Paulaner Brauhaus in Peking. „Bei uns steht die Qualität und Frische unserer Gerichte an oberster Stelle. Sobald das Essen unser Restaurant verlässt und in irgendeiner Warmhaltebox eines Lieferanten landet, haben wir keinen Einfluss mehr darauf, in welchem Zustand die Menüs am Ende bei den Kunden ankommen.“ Tatsächlich hatten mehrere Lieferdienste zuletzt wiederholt für negative Schlagzeilen gesorgt, etwa weil sie Essen von Restaurants ausgeliefert hatten, die aufgrund katastrophaler Hygienebedingungen keine Lizenz besaßen.
Doch ein Großteil der Restaurantbetreiber lässt sich von solchen Missständen nicht abschrecken und geht nur allzu gerne eine Partnerschaft mit den Liefer-Apps ein. Sie schätzen an dem Modell vor allem, dass sie sich um keine eigenen Kuriere mehr kümmern müssen, denn die Lieferdienste unterhalten eigene Fahrertruppen und übernehmen die komplette Logistik. Eine Bequemlichkeit, an der die meisten Gastronomen teilhaben wollen.

Finanzvolumen im O2O-Lieferservice-Sektor mehr als verfünffacht
„Wir haben kein Problem mit den Hygiene- und Transportbedingungen unseres Bestelldienstes Jinshisong,“ sagt ein Mitarbeiter des Pekinger Brauerei-Pubs Great Leap Brewing, der nicht namentlich genannt werden möchte. „Hauptsache ist, die Warmhalteboxen sind groß genug, dass auch unsere XXL-Pizzen hineinpassen.“ Der Marketingmanager kann sich angeblich an keinen einzigen Fall erinnern, bei dem sich ein Kunde über lange Wartezeiten, schlechte Qualität oder kalt gewordene Speisen beschwert hätte. „Unser Lieferdienst war stets zuverlässig, deshalb haben wir unseren Vertrag kürzlich um zwei weitere Jahre verlängert.“
Einer Prognose der chinesischen Analyseagentur Analysis International zufolge wird der digitale Food-Delivery-Markt in den kommenden Jahren noch weiter wachsen: Betrug das Finanzvolumen des chinesischen Online zu Offline-Lieferservice-Sektors im Jahr 2015 noch 45,8 Milliarden Yuan (umgerechnet ca. 6,4 Milliarden Euro), sagen Beobachter bis 2018 eine Verfünffachung des Budgets auf dann 245,5 Milliarden Yuan (34,4 Milliarden Euro) voraus. Doch woher kommen die exorbitanten Summen, die plötzlich die Kassen von Chinas App-Lieferdiensten überfluten?

Woher kommen die Milliarden?
Wie in den meisten anderen Online-Marktsegmenten des Lande stecken auch im O2O-Gastronomiesektor die Internet-Monopolisten Alibaba, Tencent und Baidu hinter dem Geldsegen. Chinas Gegenstücke zu Amazon, Facebook und Google haben es sich auf die Fahnen geschrieben, das Bestellen von Essen zu revolutionieren und liefern sich dabei einen knallharten Wettbewerb. So hat der WeChat-Erfinder Tencent in immer neuen Finanzierungsrunden viele Hunderte Millionen Dollar in Dianpings Lieferservice investiert, während E-Commerce-Gigant Alibaba um den Internetmogul Jack Ma lange Zeit vor allem dessen Erzrivalen Meituan unterstützt hat. Der Suchmaschinenbetreiber Baidu hingegen hat kurzerhand seinen eigenen Bringdienst Baidu Waimai auf die Beine gestellt und setzt damit den anderen Lierferdiensten ordentlich zu. Dabei ist der Kampf der Techriesen im Food-Delivery-Sektor symptomatisch dafür, wie sich die Konkurrenzsituation in Chinas Internetwirtschaft immer weiter verschärft.

Konzerne dringen immer mehr in die traditionellen Geschäftsfelder ihrer Rivalen vor
Die unaufhaltsame Verbreitung und allgegenwärtige Nutzung von Smartphones und Tablets hat maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Laut einer Studie des britischen Marktforschungsunternehmens Nielsen besitzen schon heute über 73 Prozent der chinesischen Bevölkerung ein eigenes Smartphone. Ein Großteil der Geschäfte im E-Commerce wird nicht mehr über stationäres Internet getätigt, sondern über mobile Endgeräte. Dies hat dazu geführt, dass etablierte Online-Marktstrukturen in den vergangenen Jahren erheblich durcheinander gewirbelt wurden. Ehemals bestehende Grenzen zwischen verschiedenen Geschäftsfeldern lösten sich immer weiter auf. So konzentriert sich der E-Commerce-Gigant Alibaba heute nicht mehr nur auf sein Spezialgebiet – Shopping-Plattformen wie Taobao oder TMall -, Baidu nicht nur auf Suchdienstleistungen und Tencent nicht nur auf seine sozialen Netzwerke. Stattdessen dringen die Konzerne immer mehr in die traditionellen Geschäftsfelder ihrer Rivalen vor, indem sie Konkurrenzdienste zu deren Angeboten gründen oder sich mit strategischen Investitionen in deren Marktsegmente einkaufen.

Zankapfel Online-to-Offline-Segment
Jüngster Zankapfel ist das neuerdings boomende O2O-Segment: App-gestützte Dienstleistungen, bei denen Online- und Offline-Aktivitäten kombiniert werden. Erschreckend deutlich zeigte sich dies im Fall der rivalisierenden Taxi-Apps Didi Kuaidi und Didi Dache, an denen Alibaba und Tencent jeweils mit vielen Millionen US-Dollar beteiligt waren. Nachdem sich die beiden verfeindeten Mutterfirmen jahrelang mit immer größeren Investitionen und knallhartem Preis-Dumping bekriegt hatten, ohne dass sich einer ihrer Schützlinge endgültig gegen seinen Kontrahenten durchsetzen konnte, lösten sie das Problem am Ende durch eine Fusion und beförderten die übermächtige neue Kreuzung Didi Chuxing kurzerhand an die Spitze des Feldes. Sehr zum Ärger ihres gemeinsamen Konkurrenten Baidu, der sein Geld in die US-amerikanische Taxi-App Uber investiert und jahrelang vom Zwist der beiden Konkurrenten profitiert hatte.
Der Kampf geht in die nächste Runde
Den gleichen Schachzug scheinen Alibaba und Tencent nur wenige Monate später mit dem Zusammenschluss ihrer App-Essenslieferdienste Dianping und Meituan gemacht zu haben. Und erneut mit Erfolg, wie sich gezeigt hat: Wie bereits im Falle von Didi Chuxing übernahm das neue Unternehmen gleich nach der Fusion die Marktführung im Food Delivery-Segment, was weitere Bündnisse in der Branche in naher Zukunft befeuern könnte. Ob sich aber die Konkurrenzsituation zwischen den drei Monopolisten Alibaba, Baidu und Tencent auf diesem Wege beseitigen lässt, bleibt vorerst abzuwarten. Mit der Gründung seines eigenen Lieferdienstes Koubei im Juni 2015 und dem Verkauf seiner gerade erst Erworbenen Anteile an Meituan-Dianping sendet Alibaba seinen Kontrahenten ein eher gegenteiliges Signal: Nämlich, dass der Konzern bereit ist, den Kampf um die Vormachtstellung auf dem Lieferservice-Sektor in die nächste Runde zu tragen.