Schon vor dem offiziellen Kinostart sorgt das neue Bruce Lee-Biopic Birth of the Dragon für Ärger im Netz. Im Fokus: Ein Rassismus-Vorwurf. Vor allem asiatische Zuschauer empören sich darüber, dass der Film einen weißen Darsteller zur Hauptfigur macht. Bruce Lee verkomme zur Randfigur in seiner eigenen Biografie. Was ist dran an der Kritik?
„Inspiriert durch reale Ereignisse“ – Wer diese Ankündigung im Vorspann eines Spielfilms liest, könnte meinen, es handele sich um eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht. Mit Charakteren, die wirklich existiert haben und einer Handlung, die sich tatsächlich so zugetragen hat. Authentisch und glaubwürdig eben. Filmproduzenten sind sich dieser Erwartungshaltung durchaus bewusst. Insbesondere bei Filmbiografien, sogenannten „Biopics“, nutzen sie dieses Instrument nur allzu gerne, um dem Publikum den Eindruck von Authentizität zu vermitteln. Denn Filme mit Wahrheitsanspruch verkaufen sich bekanntlich besser.

Künstlerische Freiheit vs. Wahrheitsanspruch
Dabei handelt es sich bei Biopics keineswegs um exakte Abbildungen realer Ereignisse, sondern vielmehr um fiktionale filmische Erzählungen, die den Filmschaffenden einen gewissen künstlerischen Spielraum lassen. Am Ende entscheiden allein die Produzenten, wie nah an der Wahrheit sie ihre Geschichten erzählen. So passiert es nicht gerade selten, dass sich erhebliche Abweichungen zwischen der fiktionalen Freiheit der Produzenten und dem Wahrheitsanspruch ihres Publikum ergeben.
„Widerliche Realitätsverzerrung“
Ein aktuelles Beispiel für einen Film, in dem diese Diskrepanz besonders krass ausfällt, ist die neue Bruce Lee-Filmbiografie „Birth of the Dragon“ der Produktionsfirma Groundswell Productions. Der Film ist noch nicht offiziell in den Kinos angelaufen – zu sehen bekamen ihn bislang lediglich die Besucher des diesjährigen Toronto International Filmfestivals, wo er im Juli 2016 uraufgeführt wurde, sowie eine überschaubare Anzahl an Testguckern auf verschiedenen Screenings. Doch das genügt bereits, um im Internet einen Sturm der Entrüstung loszutreten. Von einer „widerlichen Realitätsverzerrung“ ist da die Rede, und von einer „Verunglimpfung des Erbes Bruce Lees“.

Worum geht es?
Der Film erzählt die Geschichte des jungen Bruce Lee, dessen steile Hollywood-Karriere noch auf sich warten lässt. Es ist das Jahr 1964, Bruce lebt in einem kleinen heruntergekommenen Apartment in San Francisco, vertreibt sich die Zeit mit Straßenkloppereien und unterrichtet hin und wieder amerikanische Kids in seiner Kampfsportschule. Eines Tages taucht der mysteriöse chinesische Kung Fu-Meister Wong Jack Man auf und fordert Bruce zum Duell heraus. Sein Auftrag: Er soll Bruce besiegen und ihm das Versprechen abringen, dass er keine Ausländer mehr in seiner Schule unterrichten wird. Denn die chinesische Kampfsportelite in San Francisco hat ein Problem damit, dass einer ihrer Abkömmlinge Westler in die traditionellen chinesischen Kampfkünste einweiht. Da Bruce von der Überlegenheit seiner Technik überzeugt ist, willigt er in den Kampf ein. Das ist die grobe Rahmenhandlung des Films – und bis zu diesem Punkt deckt sie sich weitgehend mit den Überlieferungen.
Eigene Version der Legende geschaffen
Da jedoch der legendäre Kampf zwischen Lee und Man quasi hinter verschlossenen Türen stattfand, konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden, was genau sich damals zwischen den beiden Kontrahenten abgespielt hat. So ist beispielsweise nach wie vor umstritten, wer den Kampf überhaupt gewonnen hat. Beide Kämpfer beanspruchten im Nachhinein den Sieg für sich. Aussagen von angeblich beteiligten Zeitzeugen widersprechen sich ebenfalls gegenseitig, so dass dieses Thema auch heute noch Stoff für Mythen und Theorien liefert. Mit „Birth of the Dragon“, so scheint es, haben die Produzenten ihre eigene Version der Legende geschaffen, und diese habe – glaubt man den empörten Testguckern – mit den Überlieferung nicht allzu viel zu tun.

Randfigur in der eigenen Biografie
Insbesondere monieren die Kritiker, dass der Film, der laut eigenem Anspruch die Geburt der Kampfkunstlegende Bruce Lee zum Inhalt hat, sich nur abseitig mit ihm beschäftige und sich stattdessen auf eine frei erfundene Figur, den jungen Amerikaner Steve McKee (gespielt von Billy Magnussen) fokussiere. Dieser strandet im Film auf der Suche nach sich selbst in San Francisco und wird dort von Bruce aufgegabelt und fortan in dessen Kampfkunst eingeweiht. Während der Amerikaner im Laufe des Films eine Entwicklung durchmacht, sich vom Loser zum Super-Kämpfer mausert und am Ende als Held auch noch das Mädchen bekommt, bleibe die Figur Bruce Lees den Kritikern zufolge eindimensional, farblos und ohne eigene Ansprüche. Dass McKee überdies von einem weißen Darsteller gespielt wird, setzt der Sache in den Augen der asiatischen Bruce Lee-Fans die Krone auf. Auf der Filmbewertungsplattform Internet Movie Data Base machen sie ihrem Ärger über die als rassistisch empfundene Personalbesetzung Luft.
Eine Auswahl der wütendsten User-Kommentare auf der Internet Movie Database:
Das Produktionsteam hat mittlerweile auf die wachsende Kritik reagiert und ein offizielles Statement abgegeben. Demnach sagte der Produzent Michael London, es sei für ihn schmerzhaft, dass sein Film eine solche Kontroverse ausgelöst hat. „Alles, was wir mit dem Film erreichen wollten, war das Andenken an Bruce Lee zu feiern, in einer Zeit, in der sich Ost und West auf tiefgreifende Weise einander öffnen.“ Der verantwortliche Regisseur George Nolfi erklärte, die Rolle des Steve McKee sei notwendig gewesen, da der Amerikaner den Westen repräsentiere. „Der legendäre Kampf zwischen Bruce Lee und Wong Jack Man hatte seinen Ursprung in einer tiefgehenden Meinungsverschiedenheit darüber, ob die westliche Welt in die alten traditionellen Kampfkünste der Chinesen eingeweiht werden sollte oder nicht. Der Film veranschaulicht diesen Konflikt, indem er ihn durch die Augen eines Westlers zeigt, der im Begriff ist Kung Fu zu erlernen. Eine brillante Leistung der Drehbuchautoren.“
Die Filmwissenschaftlerin Dr. Felicia Chan von der Universität Manchester hingegen findet die Argumentation der Produzenten wenig überzeugend: „Bruce Lee hatte im Westen auch auf schwarze Kampfsportler und das schwarze Publikum einen großen Einfluss. Filme, die den Westen automatisch mit ‚weiß‘ gleichsetzen, verfälschen die Realität.“
Angst, das weiße Publikum zu verprellen
Es ist keine Neuheit, dass sich Hollywood den Vorwurf des Rassismus gefallen lassen muss. Schon seit langem wird der US-Filmindustrie nachgesagt, sie beschränke sich bei ihren Produktionen überwiegend auf weiße Darsteller – aus Furcht, das größtenteils weiße Publikum zu verprellen. So wurden bereits in den Anfangsjahren der großen amerikanischen Filmstudios schwarze Filmcharaktere durchweg von weißen Schauspielern mit schwarz geschminkten Gesichtern gespielt. Später setzte sich die Praktik durch, Rollen, die ursprünglich von Angehörigen anderer Ethnien verkörpert wurden, stattdessen mit weißen Schauspielern zu besetzen. Als „Whitewashing“ (deutsch: Weißwaschen) bezeichnen Kritiker dieses Phänomen.
Einer Studie der University of Southern California (USC) aus dem Jahr 2014 zufolge wurden 73 Prozent aller Hauptrollen in den 700 erfolgreichsten Filmen aus der Zeit von 2007 bis 2014 von weißen Darstellern gespielt. Dies überrascht umso mehr, als ein Großteil (ca. 46 Prozent) der amerikanischen Kinogänger nicht-weißer Abstammung ist und sich über mehr kulturelle Vielfalt bei der Besetzung von Hauptrollen durchaus freuen würde.

Ethnische Ideale wichtiger als Authentizität
Doch Hollywood scheut nach wie vor das Risiko, neues auszuprobieren. Stattdessen setzen die Produzenten weiterhin auf altbewährte Konzepte, die den kommerziellen Erfolg ihrer Filme nicht gefährden – und da scheinen weiße Hauptdarsteller immer noch an erster Stelle zu kommen. Dies geht mittlerweile so weit, dass Produzenten selbst in Filmbiografien wie „Birth of the Dragon“, die sich dezidiert um Figuren mit nicht-weißer Abstammung drehen, bewusst kulturelle Hintergründe oder sogar die ethnische Abstammung der Figuren als Ganze verfälschen und somit ihrem ethnischen Ideal den Vorzug vor Authentizität und Wahrheitsanspruch geben. Vor dem Hintergrund, dass beinahe alle Filme Bruce Lees als ein Statement gegen das damalige rassistisch verzerrte Image der Chinesen im Westen verstanden werden können, erscheint der laxe Umgang der Groundswell-Produzenten mit dieser sensiblen Thematik zumindest als fragwürdig.
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Titelbild: TIFF
Porträt Billy Magnussen: Alessandra Nölting; CC BY-SA 2.0